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(Cover Michael Barth)(Cover Michael Barth)

© Michael Barth 

 

Klappentext

 

»Ich habe viele Menschen getötet. Und ich werde weiter töten. «

 Köln wird von einer grausamen Mordserie mit augenscheinlich religiösem Hintergrund erschüttert. Der psychisch labile Ermittler Thomas Büchner ahnt noch nicht, dass er seinem bis dahin schwierigsten Fall gegenübersteht.

 Zur gleichen Zeit stellt die Beichte eines mysteriösen Fremden nicht nur Pater Hierholzers Leben auf den Kopf, sondern auch das Beichtgeheimnis infrage.

 Und was hat mit alledem die Entführung von Ruth Tillmann zu tun?

 

 

Taschenbuch 450 Seiten

 

BoD, 27.07.2020

 

ISBN-10: 3751967001

ISBN-13: 978-3751967006

Preis: 13,99 €, eBook 3,99 €

 

Leseprobe

 

Prolog

Pater Hierholzer war seit über zwanzig Jahren Priester in dem kleinen und beschaulichen Bergdorf in den bayerischen Alpen. In erster Linie kamen im Winter Familien zum Skifahren und in der übrigen Jahreszeit einige Wanderer in diesen Ort. Meistens ging es dort sehr ruhig zu. Viel zu ruhig, wie er befand. Er vermisste das Großstadtflair seiner Kindheit und Jugend, das in Düsseldorf, München und auch während seines Theologiestudiums in Köln allgegenwärtig war. Inzwischen war er Anfang sechzig und hoffte, dass er in den nächsten Jahren die Gelegenheit erhielt, wieder in eine größere Stadt zu ziehen, doch er wusste, dass er es nicht in der eigenen Hand hatte.
Er war schon immer ein guter Zuhörer gewesen und es gefiel ihm, Menschen mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Meistens kamen sie zu ihm und suchten ein Gespräch, Trost oder einfach nur ein offenes Ohr. Es war eher selten, dass ihn jemand um eine Beichte bat und ausdrücklich darauf bestand, anonym zu bleiben. Zuletzt hatte dies ein Nachbarsjunge von ihm verlangt, den er von klein auf kannte. Er hatte in Nachbars Garten Äpfel gestohlen und danach ein schlechtes Gewissen gehabt. Zumeist kamen jedoch Menschen zu ihm, die kurz vor ihrem anstehenden Tod um Vergebung ihrer Sünden und Absolution baten. Oftmals gestanden sie ihm, dass sie Angst vor dem göttlichen Gericht hatten. Mit wirklicher Reue hatte dies aus seiner Sicht nichts zu tun.
Doch an diesem Tag war es anders. Ein Fremder rief im Gemeindehaus an und bat um die Beichte. Pater Hierholzer bot ihm ein persönliches Gespräch unter vier Augen an, aber er bestand auf seinem Anliegen. »Ich möchte nicht gesehen werden«, sagte der Fremde. »Mir ist es wichtig, nur mit Ihnen zu reden. Geht das?«
»Natürlich, wenn Sie es so wünschen. Ich werde im Beichtstuhl auf Sie warten.«

Eine halbe Stunde vor dem vereinbarten Termin ging der Priester für ein stilles Gebet in die Kirche. Vor dem alten Beichtstuhl blieb er andächtig stehen und ergötzte sich an dessen Schönheit. Er war aus dunklem Holz gefertigt und komplett geschlossen, sodass weder der Sünder noch der Priester zu sehen waren. Der Korpus war mit kunstvollen Ornamenten verziert, wohingegen die zwei nebeneinanderliegenden Türen, ebenfalls aus dunklem Holz und mit kleinen abgedunkelten Fenstern versehen, eher schlicht gehalten waren. Das Innere war auf ausdrücklichen Wunsch von Pater Hierholzer so umgebaut worden, dass er mit dem Rücken zur Wand und gegenüber der Tür saß, während der Beichtende mit Blick zum Seelsorger kniete. Sie waren durch eine Holzwand getrennt, in die ein vergittertes Sichtfenster eingebaut war. Die karge Beleuchtung der Kabine des Priesters sollte es dem Beichtenden ermöglichen, ihn zu sehen, währenddessen er unerkannt blieb. Seine Hoffnung war es, dass der Sünder durch diese Anonymität seine Sünden vollumfänglich und ehrlich gestand.
Die Zeit verging und er wartete geduldig auf seiner Seite des Beichtstuhls auf den Mann. Schon rechnete er damit, dass er nicht erscheinen würde, denn es kam immer wieder vor, so vermutete er, dass die plötzliche Angst des Beichtenden, seine Sünden zu benennen, ihn im letzten Moment umkehren ließ. Aber auch den einen oder anderen Streich konnte Pater Hierholzer nicht ausschließen. Er beschloss, eine weitere halbe Stunde zu warten. Die Zeit las er bereits seit vielen Jahren von keiner Armbanduhr ab, seine innere Uhr war genauso zuverlässig.
Gerade als er annahm, dass es doch nur ein Scherz gewesen war, hörte der Priester Schritte durch die Kirche hallen und wie die Tür des Beichtstuhls geöffnet wurde. Jemand nahm Platz und holte tief Luft. Nur die lauten Atemgeräusche des Fremden durchbrachen die Stille.
»Vater? Sind Sie noch da?«, fragte schließlich eine Männerstimme.
»Natürlich, mein Sohn.«
»Danke, dass Sie gewartet haben.« Der Mann atmete schwer und schwieg eine Weile, bevor er leise sagte: »Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.«
»Gott, der unser Herz erleuchtet, schenke dir wahre Erkenntnis über deine Sünden und seiner Barmherzigkeit. Amen.«
»Amen.«
Wieder herrschte Stille. Der Priester kannte das Schweigen, doch in diesem Fall beunruhigte ihn die Stille.
»Vater, vergib mir, denn ich habe gesündigt«, sagte der Mann endlich so leise, dass Pater Hierholzer sich anstrengen musste, ihn zu verstehen. »Ich … ich habe getötet. Ich habe viele Menschen getötet.«
Der Priester spürte einen schweren Kloß im Hals, seinen plötzlich ansteigenden Herzschlag versuchte er, durch langsames und tiefes Atmen zu beruhigen. Seine Augen hatte er starr auf den Boden gerichtet, so als traute er sich nicht, in die Richtung des Mannes zu blicken, den die Dunkelheit ohnehin vor ihm verbarg. Unwillkürlich versuchte er, die Stimme des Mannes einzuordnen. Kannte er ihn? Wie alt mochte er sein? Woher kam er? Schließlich fragte er: »Warum hast du getötet, mein Sohn?«
»Ist das wichtig für die Gnade Gottes?«
Nein, er kannte den Mann nicht, da war er sich sicher. Dem Klang seiner Stimme nach schätzte er ihn auf Mitte dreißig bis vielleicht Mitte vierzig. Er war Deutscher, wie er aus dem nahezu akzentfreien Hochdeutsch schlussfolgerte. »Alles, was wir tun, ist von Bedeutung.«
»Ich musste es tun«, flüsterte der Fremde. »Immer wieder musste ich es tun. Es war mein Auftrag.«
»Bist du Soldat?«
»Wenn Sie es so wollen, dann ja. Dann wurde ich bereits als Soldat geboren.«
»Waren deine Feinde ebenfalls Soldaten?«
»Weder waren sie meine Feinde noch Soldaten. Ich habe sie getötet, weil ich sie töten musste. Es ist mein Auftrag, meine Berufung. Aber …« Der Mann stockte einen Augenblick. »Aber ein Teil in mir möchte das nicht.«
»Mein Sohn, bist du …?«
»Ein Mörder? Meinen Sie das?« Der Stimme war plötzlich scharf, fast aggressiv.
»Ja, mein Sohn. Das meine ich«, erwiderte Pater Hierholzer, obwohl er am liebsten »Nein, natürlich nicht« geantwortet hätte. Es folgte erneut ein Moment des Schweigens, in dem der Geistliche den Atem anhielt. Er betrachtete seine zitternden Hände. War er mit seiner Frage zu weit gegangen? Hatte er den Fremden wütend gemacht?
»Ein Mörder?«, wiederholte der Mann leise. »Nein. Nur weil ich getötet habe, bin ich dennoch kein Mörder. Ich musste es schließlich tun.«
»Aber warum?«
»Um ihre Seelen zu retten.«
Um Gottes willen, fuhr es Pater Hierholzer durch den Kopf, ich nehme einem Wahnsinnigen die Beichte ab. Panik stieg in ihm auf. Ich muss diesen Spuk beenden. Er holte tief Luft. »Gott, der barmherzige Vater, hat durch den Tod …«
»Ich werde weiter töten«, zischte der Fremde. »Es ist meine Berufung, die verirrten Seelen zu befreien.«
»Durch das Morden …«
»ICH BIN KEIN MÖRDER!«, rief der Mann. »ICH RETTE SEELEN!« Die Stimme des Fremden hallte durch die Kirche.
Pater Hierholzer grübelte, ob sich irgendjemand außer ihnen dort aufhielt. Nein, da war er sich relativ sicher. Bitte, Gott, lasse niemanden die Kirche betreten, solange der Wahnsinnige hier drinnen ist, betete er im Geiste. »Wie entscheidest du, welche Seelen verirrt sind?«, fragte er mit zittriger Stimme.
»Warum fragen Sie das?«
»Ich will versuchen, dir den richtigen Weg zu weisen, mein Sohn. Du musst nicht töten, um Seelen zu retten. Niemand muss das tun.«
»Den richtigen Weg?« Der Fremde lachte leise. »Sie haben nicht die Macht dazu, Vater. Niemand außer mir und den anderen Soldaten, wie Sie sie nennen, hat diese.«
Die folgende Stille quälte den Mann Gottes. Du meine Güte, dachte er. Es gibt noch mehr davon?
»Vater?«
»Ja, mein Sohn?«
»Sie sind doch an das Beichtgeheimnis gebunden, oder?«
»Natürlich bin ich das. Alles, was du beichtest, bleibt in dieser Kirche.«
»Gut. Ich möchte nicht, dass weitere unschuldige Seelen zu Schaden kommen, nur weil …« Er zögerte. »Nur weil ich verraten worden bin.« Erneut herrschte quälendes Schweigen. »Wir sind allein hier, davon habe ich mich überzeugt. Also muss niemand um sein Leben fürchten, auch Sie nicht, wenn Sie sich an Ihr Beichtgeheimnis halten.«
Hierholzer zitterte. Es war für ihn selbstverständlich, die Gespräche vertraulich zu behandeln. Er wusste, dass er selbst unter Folter nichts von dem preisgeben durfte, was ihm anvertraut worden war. Aber diesmal hatte er das Gefühl, unschuldige Menschen einem Monster zum Fraß vorzuwerfen. Er zweifelte zum ersten Mal daran, ob es richtig war, einen offensichtlichen Massenmörder zu schützen und ihn ungehindert weiter morden zu lassen, nur um eines Gelübdes willen. Der Gewissenskonflikt war kaum erträglich, wusste er doch, dass niemand, selbst Gott nicht, ihn jemals von der Schuld freisprechen könnte, wenn er es brach. Oh, Gott, was für eine Bürde lässt du mich da tragen?, dachte er. »Das werde ich«, flüsterte er schließlich zurück.
»Gut. Sehr gut. Dann bitte ich Sie um die Absolution für meine Taten, um meiner Berufung zu folgen«, sagte der Fremde.
Pater Hierholzer schluckte und sah auf seine zitternden Hände. »Das kann ich nicht, mein Sohn.«
»Warum nicht? Die Kirche kann doch sonst alle Sünden vergeben.« Die Worte, die er sprach, trieften vor Hohn.
Der Mann Gottes holte tief Luft. »Ich kann dich nur von deinen Sünden lossprechen, wenn du deine Taten auch bereust. Tust du das?«
Der Fremde lachte leise. »Ich könnte ein paar Vaterunser beten.«
»Verspotte nicht den Herrn«, entfuhr es dem Priester mit gedämpfter Stimme. »Dies ist das Haus Gottes. Behandle es mit Respekt und in tiefer Demut.« Er rieb seine feuchten Hände an der Soutane ab.
»Also gut, Vater.« Der Fremde klang ruhig und aufrichtig. »Was also kann ich tun, um die Absolution zu erhalten?«
»Bereue deine Taten«, sagte Pater Hierholzer. »Übe dich im täglichen Gebet für die verirrten Seelen. Und nun gehe hin in Frieden.«
»Amen«, flüsterte der Fremde. »Danket dem Herrn, denn er ist gütig. Sein Erbarmen währt ewig.«
Gleich ist es vorbei, dachte Hierholzer. Gleich wird er aufstehen und die Kirche verlassen. Aber was mache ich dann?
»Vater?«, holte ihn der Mann aus seinen Gedanken. »Wie gelange ich in den Stand der Gnade?«
»Selbst die Beichte und Absolution kann die Schwere deiner Schuld nicht tilgen«, antwortete Pater Hierholzer leise. »Dies liegt nicht mehr in meiner Macht.«
»Das verstehe ich. Darf ich Sie wieder besuchen kommen?«
Auf keinen Fall, nein, schoss es dem Priester durch den Kopf. »Wenn du es möchtest. Das Haus Gottes steht dir immer offen.«
»Ich meine, wenn ich erneut getötet habe? Ich habe noch so viel zu tun, Vater. So viel zu tun …«


Kapitel 1

Ruth Tillmann hatte vom Küchenfenster aus den großen Garten und ihre beiden Kinder gut im Blick. Von der Küche führte eine Tür direkt auf die Terrasse, die ebenfalls vom Wohnzimmer aus erreichbar war. So konnte sie sofort zu ihren Kindern eilen, wenn sie es für nötig hielt, was sehr häufig der Fall war. Einerseits hatten der fünfjährige Manfred sowie seine zwei Jahre jüngere Schwester Annette stets irgendeinen Blödsinn im Kopf, andererseits gehörte Ruth zu den Müttern, die man im Volksmund schlichtweg als Helikopter-Mütter bezeichnete. Die beiden Kleinen wussten das immer wieder für sich auszunutzen, indem sie einfach mal laut losbrüllten, wenn sie die Beachtung ihrer Mutter einfordern wollten oder sich bei ihren zahlreichen Streitigkeiten nicht einigen konnten. Und Ruth rannte sofort los. Auf der anderen Seite hatte sie neben der täglichen Hausarbeit und dem Hüten ihres Nachwuchses kaum nennenswerte Beschäftigungen. Ihr Ehemann Franz war als selbstständiger Geschäftsmann oftmals tagelang im In- und Ausland auf Reisen und sie mit den beiden allein in dem Haus im Nobelviertel Köln-Marienburg, das für eine Familie mit zwei Kindern viel zu groß war. Außerdem fühlte sie sich als gebürtige Münchnerin in Köln nicht wohl und träumte immer wieder von ihrer bayerischen Heimat und den Bergen.
Dieser laue Sommerabend, Franz war seit einer Woche unterwegs, gestaltete sich besonders langweilig, denn Manfred und Annette spielten miteinander - friedlich und ohne zu streiten. Ihr Blick auf die Küchenuhr zeigte, dass es Zeit war, die Kinder ins Haus zu holen und nach dem Abendessen ins Bett zu bringen. Sie ging auf die Terrasse und sah ihnen eine Weile beim Spielen zu. Fast tat es ihr leid, sie in dieser ungewohnten Eintracht zu stören, doch sie gab sich einen Ruck. »Kommt ins Haus, Kinder«, rief sie. »Zeit fürs Abendbrot.«
»Hab keinen Hunger«, riefen sie wie aus einem Mund.
»Keine Widerrede. Ab ins Haus.«
»Och nö«, maulte Manfred, während Annette folgsam ins Haus rannte. Mürrisch folgte ihr Bruder.

Nachdem sie die Kinder ins Bett gebracht hatte, ließ sie sich in einen Gartenstuhl fallen und genoss die letzten Sonnenstrahlen. Das leise Schnorcheln der beiden aus dem Babyfon beruhigte sie und sie nickte ein.
Als sie aufwachte, war es bereits düster und merklich frischer geworden. Sie beschloss, sich eine Jacke überzuziehen und den Abend mit einem Glas Rotwein im Freien ausklingen zu lassen. Es war dunkel in der Küche, doch sie kannte auch ohne Licht jede Ecke. Sie füllte ihr Glas halb voll und drehte sich um, um wieder auf die Terrasse zu gehen. Ihr Herzschlag setzte für einen Augenblick aus und sie verharrte mitten in der Bewegung, als sie eine männliche Gestalt regungslos in der Terrassentür stehen sah. Sie zuckte zusammen, konnte ihn kaum erkennen, denn die Dunkelheit verschluckte ihn fast. Doch dann huschte ein Lächeln über ihr Gesicht.

***

»Also, Herr Büchner, wie gehts uns denn heute?« Doktor Axel Dick hatte die Beine übereinandergeschlagen und einen großen Notizblock auf dem Schoß liegen, den er jedoch nur selten benutzte. Der Psychologe hatte ein ausgezeichnetes Gedächtnis und ihm genügten einige wenige Stichpunkte, die er nach jeder Sitzung aufschrieb. Bei Thomas Büchner hatte er sich die Diagnosen mittelgradige depressive Episode, psychische Dekompensation mit Panikattacken, Bluthochdruck und Alkoholmissbrauch aufgeschrieben. Während der letzten neun Zusammenkünfte hatte er zudem notiert: ungepflegtes Erscheinungsbild, respektloses Auftreten, mangelnde Krankheitseinsicht. Er musterte mit regungslosem Gesichtsausdruck den achtunddreißigjährigen Mann, der sich ihm gegenüber in den schwarzen Sessel geworfen hatte, die Beine weit ausgestreckt und die Arme vor seiner Brust verschränkt.
Thomas wirkte nicht wie ein Polizist. Er wäre in seinem speckigen Parka, den er sommers wie winters trug, der verschlissenen, schmuddeligen Jeans und den wirren und ungepflegten Haaren ebenso gut als Penner durchgegangen. Und manchmal roch er auch etwas strenger. »Wie es Ihnen geht, weiß ich nicht«, antwortete er, »aber mir gehts gut.«
»Das war nicht das, was ich hören wollte.«
Thomas Büchner lachte kurz auf. »Also gut, Doc. Mir gehts schlecht. Besser so?«
Innerlich musste Dick schmunzeln, doch äußerlich blieb er gelassen. »Gut bedeutet nichts. Das ist eine Bewertung. Ich will wissen, was Sie fühlen und wie Sie sich fühlen. Beschreiben Sie es mir.«
Thomas verabscheute diese Fragen nach seinem Befinden, hasste es, sein Innerstes nach außen zu kehren. In seinen zwanzig Berufsjahren hatte er schon vieles gesehen, grauenhafte Bilder von getöteten Menschen, aber er hatte es stets verstanden, diese Bilder und seine Gefühle zu unterdrücken. Zur Not gab es immer noch seine Stammkneipe, in der er unangenehme Empfindungen wegtrinken konnte. Er war Polizist mit Leib und Seele, rund um die Uhr. Niemand wusste so genau, wie viele Überstunden er tatsächlich hatte. Wenn es darum ging, sie abzubauen, empfand er es als eine Bestrafung, denn außerhalb seines Berufes wusste er nichts mit sich anzufangen.
Alles war in bester Ordnung gewesen, bis ihn im letzten Frühjahr Panikattacken heimsuchten. Ausgerechnet ihn, der keine Angst hatte, einen Flüchtigen zu stellen, der sich nicht scheute, Leichenteile von den Wänden zu kratzen. Plötzlich und unvermittelt hatte ihn die erste Attacke in der Warteschlange im Supermarkt überrollt. Er stand dort nahezu bewegungsunfähig, schwitzend und zitternd, und reagierte auch auf direkte Ansprache nicht. Wie festgefroren war er nicht in der Lage, sich zu rühren oder in irgendeiner Weise zu artikulieren. Zunächst kamen die Panikattacken in größeren Abständen, dann in immer kürzeren, bis es schließlich auch seinen Kollegen und Vorgesetzten aufgefallen war. Sie vermuteten ein Burn-out und redeten so lange auf ihn ein, bis er zum Arzt ging und krankgeschrieben wurde. Als zahlreiche Untersuchungen keinen körperlichen Befund ergeben hatten, schickte ihn sein Hausarzt zu Doktor Axel Dick, den er nur äußerst widerwillig aufgesucht hatte.
Thomas wusste nicht, wie er seine Gefühle beschreiben sollte, konnte sie nicht einmal spüren. Immer wieder hatte ihm der Therapeut diese Frage gestellt, doch in solchen Augenblicken stieg sein Blutdruck an, er begann innerlich zu zittern und spürte einen Druck in der Magengegend, als müsste er sofort die Toilette aufsuchen. Tatsächlich war er in zwei Sitzungen aufgesprungen und hatte sich für einige Minuten auf der Toilette eingeschlossen.
»Herr Büchner«, forschte Doktor Dick. »Wo sind Sie gerade in diesem Moment?«
Thomas zuckte mit den Schultern und sah ihn verständnislos an. »Na, hier. Wo sollte ich denn sonst sein?«
Doktor Dick wusste, dass sein Patient ihn gern provozierte, oder es zumindest versuchte, doch mit seinen Erfahrungen und seiner Professionalität als Psychologe konnte ihn so schnell nichts aus der Ruhe bringen. »Sie waren mit Ihren Gedanken ganz weit weg. Also gut. Dann noch einmal. Beschreiben Sie mir, was Sie fühlen.«
Thomas Büchner richtete sich plötzlich auf und stellte die Beine auf den Boden. Mit einer unwirschen Handbewegung rief er: »Ich bin genervt, dass ich hier bei Ihnen rumsitze und Sie mich über diese Gefühlsduselei ausquetschen.«
Doktor Dick nickte lächelnd. »Na also. Das ist doch schon mal ein Anfang.«
»Sie sind zufrieden mit mir? Das wundert mich.« Thomas sah ihn überrascht an.
»Seit zehn Sitzungen versuche ich, mit Ihnen über Ihre Gefühle zu sprechen. Und heute haben Sie es getan. Sie sind genervt. Das ist gut.« Noch immer lag ein leichtes Schmunzeln um seine Mundwinkel.
Thomas Büchner fühlte sich von diesem Mann, der, unerschütterlich in seiner Ruhe, wie ein Buddha wirkte, auf den Arm genommen. Doch er schien es tatsächlich ernst gemeint zu haben. »Freut mich, dass Sie sich freuen«, erwiderte er grinsend und ließ sich zurück in den Sessel fallen. »Da sind wir spirituell doch schon sehr weit gekommen, oder?«
»Jetzt sind Sie ganz der Alte«, stellte Axel Dick trocken fest und legte den Notizblock auf einen kleinen Glastisch, der neben ihm stand. »Na gut, Herr Büchner, die Stunde ist auch fast rum. Wir sollten es heute dabei bewenden lassen.«
Thomas atmete tief durch. Gott sei Dank, dachte er. Heute ist sowieso nicht mein Tag für so tiefschürfende Gespräche. »Okay, Doc«, sagte er. »Dann nächste Woche um die gleiche Zeit?«
»So haben wir es geplant«, erwiderte Dick.
»Gut, gut.« Thomas Büchner richtete sich auf und wischte seine feuchten Hände an den Oberschenkeln ab. »Wann kann ich wieder arbeiten? Mir fällt die Decke auf den Kopf.«
»Oh, gut, dass Sie das ansprechen. Wie sieht denn derzeit Ihre Tagesstruktur aus?«
»Im Ernst jetzt?«, fragte Thomas.
»Ja, im Ernst. So viel Zeit haben wir noch.«
Thomas ließ sich wieder in den Sessel fallen und sah gelangweilt durch den Raum, bis sein Blick an einem unbestimmten Punkt heften blieb. Er tippte mit dem rechten Zeige- und Mittelfinger gegen den linken Daumen. »Morgens stehe ich gegen sieben Uhr dreißig auf«, sagte er mit monotoner Stimmlage, »und kotze den Alkohol vom Vortag aus.« Jetzt tippte er gegen den linken Zeigefinger. »Ich rauche meine ersten drei Zigaretten. Dann«, Thomas Büchner richtete sich wieder auf, sah Dick an und hob den Zeigefinger, »putze ich meine Zähne, um den Geschmack nach toten Vogel aus dem Mund zu bekommen, und koche Kaffee.« Er lehnte sich zurück und legte die Hände übereinander auf seinen Bauch. »Nach der dritten Tasse gehe ich in der Regel kacken. Manchmal dusche ich danach, aber spätestens um elf trinke ich meine erste Flasche Bier, der noch zwei bis drei weitere folgen. Um zwölf gehe ich in die Frittenbude und pfeife mir eine Currywurst mit Fritten rein. Dienstags und donnerstags mit Mayo, ansonsten ohne, wegen der Figur. Runtergespült wird das Ganze mit ein, zwei Flaschen Bier. Dann schlafe ich meinen ersten Rausch aus. Manchmal gehe ich nachmittags joggen, allerdings nur, wenn es nicht regnet. Also mache ich das so gut wie gar nicht. Na ja, und dann macht am späten Nachmittag meine Stammkneipe auf und alles beginnt von vorne.« Er sah Dick grinsend an. »Gut so?«
Der nimmt mich doch auf den Arm, dachte Doktor Dick, verzog jedoch keine Miene. »Ja, prima«, antwortete er. »Das sieht doch nach einer Tagesstruktur aus, auch wenn es nicht meine wäre.« Als Thomas Büchner ihn irritiert ansah, fuhr er fort: »Über die Wiederaufnahme Ihrer Arbeit sprechen wir beim nächsten Termin.«
»Darüber zu reden wäre ja schon mal ein Fortschritt«, brummelte Büchner.
»Eine letzte Frage habe ich noch. Haben Sie Ihrer Tochter den Brief geschrieben, um den ich Sie gebeten hatte?«
Thomas stand auf und wandte sich zum Gehen. »Wozu?«, fragte er. »Sie wissen genauso gut wie ich, dass sie nicht antworten wird. Warum nerven Sie mich immer wieder damit?«
»Ich denke mir etwas dabei«, erwiderte Dick. »Und ich gebe Ihnen therapeutische Aufträge.«
»Nein!«, rief er genervt. »Und ich werde es auch nicht tun, verstanden?«
»Nun gut«, antwortete Axel Dick. »Eines Tages sollten Sie ihn schreiben.«
Thomas Büchner verließ den Behandlungsraum, ohne sich zu verabschieden. Da Doktor Dick kein Wartezimmer hatte, stand vor diesem Raum lediglich ein kleiner Tisch mit zwei Stühlen, die bislang stets unbesetzt gewesen waren, doch diesmal saß dort ein Mann in etwa seinem Alter, der offensichtlich Dicks nächster Patient war. Er hatte die Hände unter die Oberschenkel geschoben und starrte, unablässig mit dem Oberkörper wippend, auf den Boden. Was hat der denn für Probleme?, dachte Thomas, als er an ihm vorbeiging. Der Mann warf ihm einen schnellen, scheuen Blick zu und sah dann wieder zu Boden. Dieser kurze Moment, den sie sich in die Augen sahen, brachte Büchner ins Stocken und er blieb vor dem Mann stehen. Es war ihm, als würde er ihn kennen und doch war er ihm völlig fremd. Er schüttelte unwirsch den Kopf und verabschiedete sich mit einem knappen »Tschüss« aus der Praxis. Als er die Tür schloss, spürte er die Blicke dieses Mannes auf seinem Rücken.